Ein Leben mit sieben Pferden, zwei Hunden und drei Katzen? Für Henni ist das ganz normal. Auch, dass auf ihrem Dach ein zahmer Uhu sitzt. Und dass ihre Frau Großmutter immer einen Schlapphut trägt, wenn sie morgens am Fluss ein Lied singt.
Nebenan wohnt Oscar. Er hat eine Nase für Abenteuer. Mit ihm entdeckt man ständig Geheimnisse. So wie das Ding mit dem Dackel. Oder die Sache mit dem Reitlehrer.
Natürlich spielen Pferde die Hauptrolle bei Henni. Ihr Liebling heißt Hopi. Das ist ein Pony, das besonders gut riecht. Immer wenn sie ihre Nase hinter Hopis Ohren steckt, vergisst sie alle Sorgen. Zum Beispiel den Ärger in der Schule, und dass ihre Mama am liebsten nach Florida ziehen würde.
Hennis Freundinnen heißen Sinja und Leslie. Mit ihnen reitet sie die Tietjenhof-Ponys. Den hübschen Fuchs-Wallach Foxi. Und die schwarzen Stuten Snowflake und Tami. Als die drei Mädchen nach ihrem ersten gemeinsamen Ausritt zurück kommen, sitzt plötzlich Hennis Lehrerin am Kaffeetisch. Upsi! Was hat das bloß zu bedeuten?
Du erfährst es bestimmt - in "Henni vom Tietjenhof", dem Kinderroman für Ponyfans und Spürnasen ab 8 Jahren.
Henni in Florida
Ich weiß ja, dass es in Florida Schlangen gibt. Aber solche gewaltigen Schlangen habe ich noch nie gesehen. Auch nicht auf Bildern. Und schon gar nicht in echt. Wir stellen uns hinten in der Schlange an.
„Hilfe! Wie lange müssen wir hier warten?“, erkundige ich mich bei Tante Ulli.
„Oh my god! That’s normal, Henni! In den Parks sind die Schlangen immer so lang!“ Ihre hohen Schuhe klappern auf dem Pflaster.
Diese Schlangen hier im Filmpark können nicht beißen. Es sind Menschen-Schlangen. Vor den Fahrgeschäften stehen so viele Menschen an, dass man sie gar nicht mehr zählen kann. Vor jeder Attraktion ist ein großes Schild angebracht. Dort sieht man, wie lange man in der Schlange warten muss, bis man dran ist. Da, wo wir sind, steht auf einer Tafel: „1:45“. Also warten wir.
„Ach, ich Dummie! How stupid!“ Tante Ulli klatscht die Hand gegen ihre Stirn und trifft den oberen Rand ihrer Sonnenbrille. Das edle Stück sitzt jetzt schief auf der Nase.
„Was ist los?“ Mama sieht ihre Tante erschrocken an. „Sind wir hier falsch?“
„No! Wir sind richtig hier, aber ich habe die falschen Schuhe an!“ Ulli schaut auf ihre goldfarbenen Pumps mit den hohen Absätzen.
„Wieso?“, fragt Mama.
„Oh dear! Da lauf ich mir Blasen!“ Sie sieht ziemlich bedröppelt aus. „Nützt nichts. Das muss ich noch ändern.“ Sie greift in ihre hellgrüne Ledertasche und zieht zwei glitzernde Flipflops hervor. Dann hält sie sich an meiner Schulter fest, hebt das erste Bein und streift ihre eleganten Schuhe ab. Ein paar perfekt lackierte, dunkelrote Fußnägel kommen zum Vorschein. Nun noch die gleiche Prozedur mit dem anderen Fuß. Graziös schlüpft sie in ihre Flipflops. Ulli lässt mich los, stopft ihre goldenen Pumps in die Tasche und sagt: „Here we are! Jetzt kann’s weitergehen!“
Doch von weitergehen kann wirklich nicht die Rede sein. Wir warten und warten und warten. Ab und zu rückt die Menschen-Schlange vor. Allerdings werde ich immer neugieriger auf das, was mich am Ende dieser Schlange erwartet. Ich weiß nur, dass es zu Harry Potter geht. Und dass wir gleich in Hogwarts landen.
Endlich stehen wir vorm Harry-Potter-Schloss. Mir klappt die Kinnlade runter. Es ist wirklich genau wie im Film! Überall höre ich magische Geräusche. Eulenschreie, Hexenlachen, Türenquietschen …
Besen zischen an mir vorbei. In der Eingangshalle begrüßen uns drei überdimensionale Hogwarts-Schüler, die in der Luft schweben. Harry, Ron und Hermine. Sie tragen Schuluniformen und ihre Stimmen hallen durch das Schloss.
„Ich glaube, hier geht’s lang.“ Mama zeigt auf eine Reihe von Fahrzeugen, in denen man sich anschnallen muss.
„Oh no! Da warte ich lieber draußen. Das ist eine Roller-Coaster. Wie sagt ihr noch dazu? Achterbahn?“ Tante Ulli guckt misstrauisch über den Rand ihrer Sonnenbrille. Sie geht zwei Schritte zur Seite und positioniert sich dann lieber neben dem Eingang. Mama und ich laufen allein weiter.
„Das ist eine 3-D-Achterbahn! Cool!“, rufe ich.
Wir reihen uns in die Schlange bei den Fahrzeugen ein. Im Schloss wimmelt es von Menschen. Tante Ulli ruft uns noch was zu. Ich verstehe es nicht. Mama hält mich am T-Shirt fest und versucht zu hören, was Ulli uns sagen möchte. Von hinten drängeln die Wartenden. Ulli macht uns Zeichen. Mama nickt.
Schon stehen wir vor einem großen Wagen. Meine Mutter schiebt mich rein. Sie setzt sich neben mich und atmet tief durch. Magie liegt in der Luft. Was werden wir wohl hier in der Zauberschule erleben? Es ist alles ein bisschen gruselig. Die Harry-Potter-Bücher habe ich noch nicht gelesen. Nur den ersten Teil der Filme durfte ich kurz vor dem Urlaub sehen. Als Einstimmung für den Besuch hier im Filmpark.
Die Sicherheitsbügel schließen sich. „Bereit?“, fragt Mama.
„Bereit!“, antworte ich und mache die Augen zu.
Die Harry-Potter-Musik ertönt. Der Wagen fängt an zu wackeln. Es rüttelt und ruckelt. Ich habe das Gefühl, dass ich gleich fliege. Vorsichtig öffne ich ein Auge. Vor uns sehe ich Harry. Er rauscht auf einem Besen über die Dächer von Hogwarts. Sein Umhang flattert im Flugwind. Hin und wieder dreht er sich panisch um. Hilfe! Wir werden verfolgt!
Es fühlt sich an, als wäre ich selbst auf dem Besen. Wir schweben durch die Lüfte. Der Wagen kippt nach links, nach rechts, nach vorne, nach hinten. Wir schwanken und wanken. Es zittert und schaukelt.
Jetzt taucht plötzlich ein Drache neben uns auf. Er kämpft sich durch die Luft, greift uns an. O nein, er will uns vom Besen schubsen! Meine Finger krallen sich um den Sicherheitsbügel. Die Musik dröhnt in meinen Ohren. Harry ruft dem Drachen etwas zu. Er kämpft verzweifelt, um auf dem Besen zu bleiben. Ich kreische vor Anspannung und drücke mich fest in den Sitz.
Endlich! Harry schlägt den Drachen in die Flucht. Der Flug wird etwas ruhiger. Meine Hände entspannen sich. Wir landen auf dem Schulgelände. Auch unsere Achterbahn-Gondel hält. Die Sicherheitsbügel öffnen sich. Hinter uns drängeln die Besucher. Raus geht es mit dem Strom der Menschen. Zurück zu Tante Ulli, die hoffentlich vor dem Schloss auf uns wartet.
Ich muss mich kurz berappeln. Einen Moment lang ist mir sogar schwindelig. Als wir aus dem Dunkeln wieder ins Licht treten, halte ich mir die Hand vor die Augen. Die Sonne blendet. Um uns herum unendlich viele Parkbesucher. Sie alle wollen das Spektakel erleben.
„Ist der Drache wirklich verschwunden?“, frage ich Mama, während ich mich umsehe. „Vielleicht ist er noch hinter uns?“ Das soll natürlich ein Witz sein. Allmählich kann ich wieder lachen. Das war echt aufregend.
Meine Mutter antwortet nicht. Ich schaue nach links – und erstarre! Wo ist sie? „Mama?“, rufe ich entsetzt. Sie ist weg!
Meine Mutter ist nirgends zu sehen. Um mich herum sind Tausende von Menschen. Aber keine zierliche Frau mit hellblonden Haaren und hellblauem Kleid. Panisch schaue ich in die Gesichter der vielen Leute. Alle sind fremd. Manche lächeln, zeigen aufgeregt auf das Schloss. Niemand achtet auf mich.
Mama muss doch hier irgendwo sein! Sie war eben noch neben mir. Mit den Augen suche ich den Platz ab. Keine Mama, keine Tante Ulli. Meine Knie zittern. Wie soll ich die beiden in diesem Menschen-Wirrwarr jemals wiederfinden?
Mist, jetzt laufen mir ein paar Tränen übers Gesicht. Ich wische sie mit dem Handrücken weg. Doch es kommen immer neue. Nun muss ich auch noch schniefen und wenn ich nicht aufpasse, fange ich gleich richtig doll an zu weinen.
Die amerikanische Retterin
„Honey, what’s wrong? Can I help you?“ Eine mollige Frau mit schwarzen Locken und pink-oranger Bluse steht vor mir.
„No, I …“ Ich schluchze. „I … My Mama …“ Mir schießen die Tränen mit Karacho aus den Augen.
„Oh dear!“ Die amerikanische Dame nimmt mich in den Arm und drückt mich fest an sich. Sie riecht nach Parfum, ist weich und warm. Nun dreht sie sich zur Seite und ruft: „The girl lost her mom!“
Im Hintergrund steht ein Mann mit kurzen Hosen. Er scheint auf sie zu warten. Ich kann ihn durch den Tränenschleier kaum sehen. Ein Taschentuch schiebt sich vor meine Nase. Die nette Dame rührt sich nicht von der Stelle, bis ich mir die Nase geputzt und die Tränen abgewischt habe.
Ich spüre die Hände der Frau auf meinen Schultern. Sie schiebt mich jetzt ein Stück von sich weg und sieht mir fest in die Augen. „Sweety! Listen! How does your mom look like? Is she tall or short?“
Ich verstehe nicht genau, was sie meint. Wir haben zwar Englisch in der Schule, aber diese Amerikanerin klingt ganz anders als unser Lehrer.
Jetzt hebt die Frau die Arme in die Luft. „Tall?“, fragt sie. „Or short?“ Sie hält die Hand nun deutlich niedriger. Sie möchte wissen, wie groß Mama ist. Ich schlucke die Tränen runter und zeige ihre ungefähre Größe. Meine Mutter ist eher klein. Aber natürlich deutlich größer als ich.
„Is she chubby?“ Die Dame hält die Arme weit auseinander. „Or slim?“ Nun hält sie die Hände ganz eng zusammen.
Ich verstehe und nicke. Sie möchte wissen, ob Mama dick oder dünn ist. „Slim“, murmele ich und halte meine Finger auch eng zusammen.
„What about her clothes? Is she wearing pants? Or a skirt?“ Sie deutet nun auf ihre Hüften und Oberschenkel und zieht mit der Hand eine Linie über den Knien. „Skirt?“, wiederholt sie und sieht mich fragend an.
Ich nicke.
„Which colour? Orange? Pink?“ Sie zeigt auf ihr T-Shirt.
„Blue“, sage ich und tippe mit dem Finger auf meine hellblauen Shorts.
„Okay, let’s go!“ Sie greift nach meiner Hand und zieht mich mit. Im Weggehen ruft sie dem Mann noch was zu. „We’re looking for her mom, Fred! Wait here!“
Die unbekannte Helferin läuft mit mir in die Menschenmenge. Während wir uns durch die vielen Leute schlängeln, dreht sie sich zu mir um und fasst an ihre schwarzen Haare. „Her hair?“, fragt sie. „What colour has her hair?“
Das habe ich verstanden. „Blond“, sage ich.
Sie schaut sich suchend um, geht mit mir an der Hand auf eine fremde Frau zu. Sie weist mit dem Finger auf deren Kopf. „Like this?“
Ich nicke. Mamas Haare sind zwar noch etwas heller und länger, aber es kommt so ungefähr hin.
Die fremde blonde Frau guckt uns verwundert an, aber schon zieht mich meine Helferin weiter durch die Reihen. Ab und zu bleibt sie stehen, deutet auf verschiedene Parkbesucherinnen. Leider ist keine davon meine Mama.
Ratlos stehen wir an einem Mülleimer. Wohin ich auch blicke, keine Spur von meiner Mutter und Tante Ulli. Nur fremde Köpfe. Hände mit Eistüten und Popcorn, Handys und Pappbechern. Sie kichern und rufen sich auf Englisch Sätze zu. Ich verstehe nur „Look“ und „Hey“.
„Sie hat ein rotes T-Shirt an! Mit einem braunen Ponykopf drauf!“, höre ich eine aufgeregte Stimme. „Und sie hat braune Haare. Zöpfe. Geflochten.“
Das ist Mama! Ich drehe mich blitzschnell um. Doch ich sehe nur Polizisten, die man hier Officer nennt. Einer hält ein Funkgerät vor seinen Mund. „We’re looking for a nine year old girl with brown hair …“ Weiter kommt der Polizist nicht, denn jetzt höre ich Tante Ullis Stimme. „Henni!“, ruft sie. „There she is! Da drüben!“ Nun kann ich Tante Ullis Kopf sehen. Und ihre Hand. Sie zeigt in meine Richtung.
„Henni!“, schreit Mama. Sie kommt auf mich zugerannt. „Meine Güte! Henni!“ Sie reißt mich an sich und umklammert mich. Lange drückt sie mich an sich. Ihre Schultern zucken. Mama weint, wie ich sie noch nie habe weinen sehen. „Henni! Ich bin fast verrückt geworden! Gott sei Dank, du bist wieder da!“ Sie hält mich fest und schluchzt. Und ich bin so erleichtert, dass ich gar nichts mehr sagen kann.
Tante Ulli und die drei Officer stehen daneben. Sie lächeln uns zu. Der eine Polizist funkt jetzt seine Kollegen an. „Okay. Everything’s fine. Found her.“ Es rauscht im Funkgerät.
Tante Ulli streicht mir über den Rücken. Da findet auch meine amerikanische Retterin ihre Stimme wieder. „So glad we found you!“, sagt sie.
Jetzt lässt Mama mich los und wendet sich an die Dame, die mir so lieb geholfen hat. „Thank you very much!“, sagt Mama durch ihren Tränenschleier.
„My pleasure!“ Meine Helferin strahlt mich an. „Bye-bye, my dear!“
„Bye-bye! Thank you!“ So ein verrückter Tag. Ich will endlich wieder nach Hause, zurück zu meiner Hopi. Ich muss unbedingt ganz schnell hinter ihren Ohren schnuppern. Und dann werde ich meine Nase in ihre weichen Locken stecken und ihr alles in Ruhe erzählen ...
christin.pols@t-online.de